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REZENSION (ursprünglich erschienen in AmigaGadget Nr.37)

Marillion: Piston Broke

Plattenlabel : Racket Records
Genre : Konzertmitschnitt
Spieldauer : 131:05 min
Preis : 12 Britische Pfund

Früher veröffentlichte die britische Progressivrock-Band "Marillion" oft Livemitschnitte zweifelhafter Qualität unter ihrem eigenen Plattenlabel Racket Records - vermutlich auch, um dem vor dem Phil-Collins-Urteil des EuGH regen Geschäft mit unauthorisierten Konzertaufzeichnungen, sogenannten Bootlegs, ein wenig das Wasser abzugraben. Seitdem sind aber über fünf Jahre ins Land gezogen, ohne dass ein solches halboffzielles Album von Racket Records veröffentlicht wurde. Mit "Piston Broke" hat sich das nun geändert. Wie der Untertitel der CD deutlich macht, dokumentiert das Doppelalbum "This Strange Engine live in Europe 1997". Während Mitschnitte vom US-Arm der letztjährigen "Marillion"-Welttournee einer Dankeschön-CD für die Spender des "Tour Found", mit dem der Abstecher in die Staaten erst finanziert werden konnte, vorbehalten bleiben, kann "Piston Broke" von jederman erworben werden. Allerdings nur direkt bei Racket Records, deren Bestellkonditionen man sich etwa im WWW unter http://www.marillion.co.uk näher ansehen kann. Da "Made again", das letzte offizielle Livealbum der Band, nur bedingt überzeugen konnte (vgl. die Rezension in "AmigaGadget"#24) und die letztjährige "Strange Tour" ein mitreißendes Konzerterlebnis war (vgl. Konzertbericht in "AmigaGadget"#33), das selbst die "Marillion"-Fans überzeugt haben dürfte, die mit dem eher kommerziellen Kurs des "Strange Engine"-Albums wenig anfangen konnten, waren die Erwartungen an die Racket-Records-Veröffentlichung entsprechend hoch. Bleibt nur zu hoffen, dass lediglich der im Plattentitel genannte Kolben und nicht auch das Versprechen eines guten Livemitschnitts gebrochen ist.

Insgesamt elf Stücke befinden sich auf der ersten CD. Als Opener dient - wie schon auf "This Strange Engine" - das muntere "Man Of 1000 Faces". Dem folgt, in weiterer Steigerung des Tempos, "Hard As Love", welches unmittelbar in "Gazpacho" übergeht. Überhaupt stammen sämtliche Songs auf dieser CD aus der "Hogarth-Ära" der Band, also von den in dieser Zeit bisher veröffentlichten fünf Studioalben. Bzw. von vieren, da das Material des "Holidays In Eden"-Albums ebenfalls erst auf der zweiten CD berücksichtigt wurde. Erfreulicherweise haben auch Titel Eingang in diese Zusammenstellung gefunden, die eigentlich nicht unbedingt zu den typischen Live-Beiträgen "Marillion"s gehören - was aber durchaus die Praxis der "Strange Tour" wiedergibt, bei der die Band ja ebenfalls sehr erfolgreich mit seltener gespieltem Material experimentierte. Hinzu kommen muntere Einlagen wie ein kleiner Reggae-Teil vor einer (zum Teil französischsprachigen) Ansage Hogarths zwischen "Afraid Of Sunlight" und "80 Days" und eine akustische Version der "Seasons End"-Ballade "The Space", die jedoch unerklärlicherweise auf der CD selbst (zu Unrecht) als "Instrumental" ausgewiesen ist. Nach dem furiosen Auftakt wird der erste Teil des "zerbrochenen Kolbens" zum Ende hin deutlich ruhiger und findet mit "Easter", "Brave" und "The Great Escape" ein Finale, das drei der besten Balladen bündelt, die "Marillion" jemals geschrieben haben.

Angesichts der so hervorgerufenen Erinnerungen an die hervorragenden Alben "Seasons End" und "Brave" mag die letztjährige Studio-CD "This Strange Engine" durchaus etwas blaß wirken - und wurde von vielen treuen Anhängern der Band auch so empfunden. Jedenfalls ein Titel dieses Album fand jedoch auch bei diesen Anerkennung und Respekt - der Titeltrack, der mit fast 20 Minuten Spieldauer an den "Marillion"-Klassiker "Grendel" heranreichte. Und genau mit erstgenanntem beginnt nun auch die zweite CD des "Piston Broke"-Doppelpackes. Zwar fehlt leider hier die bei den Deutschland-Konzerten eingefügte Bob-Marley-Passage. Vorhanden ist dafür jedoch das fulminante Intro, mit dem Pete Trewavas etwa drei Minuten lang in beeindruckender Manier zeigt, dass man auch als Bassgitarrist so richtig Gas geben kann. "This Strange Engine" selbst wird dann wieder reichlich originalgetreu gespielt, was angesichts der musikalischen Komplexität und der reinen Spieldauer schon beeindruckend genug ist. Im Anschluß folgt mit "Sugar Mice" das einzige Stück aus der "Fish-Ära", also aus der Zeit, als noch der Schotte an Stelle von Hogarth Frontmann der Band war. Dem schließen sich die beiden einzigen Stücke vom "Holidays In Eden"-Album an, und das auch noch in einem einzigen CD-Track. Dafür ist die kraftvolle Kombination von "This Town" und "100 Nights" (eigentlich hätte wohl auch das Bindeglied "The Rakes Progress" aufgeführt werden müssen) ein heimlicher Höhepunkt des Konzertmitschnitts, verdeutlicht sie doch beispielhaft die Fähigkeiten der Band, der man ja oft eine gewisse Kopflastigkeit und musikalische Melancholie vorwirft, als begeisternder Liveact. Mit "Bell In The Sea" folgt eine weitere kleine Überraschung - hat es das Stück, das im Zuge der Aufnahmen zu "Seasons End" entstand (und auch auf dem entsprechenden "Remaster" zu finden ist) doch - völlig zu Unrecht - niemals auf ein offzielles Studioalbum geschafft. Eigentlich ist das Konzert aus der Konserve nun vorbei, doch nach einigen Zugabe-Forderungen tritt die Band noch zu zwei ebensolchen an. Dabei spielen Hogarth, Rothery, Kelly, Trewavas und Mosley zunächst ziemlich frech mit der Erwartungshaltung des Publikums, wenn Hogarth zu den Tönen des Samba-inspirierten "Hope For The Future" die ersten beiden Zeilen des größten kommerziellen "Marillion"-Hits "Kayleigh" anstimmt. Einen krönenden Abschluß findet diese CD, die der ersten in nichts nachsteht und vielleicht sogar noch einen Tick besser ist, mit dem großartigen "King" vom "Afraid Of Sunlight"-Album, einem schweißtreibenden Song über Prominente, die den Bezug zur Realität und letztlich auch zu sich selbst verloren haben (der Titel ist insoweit durchaus als Anspielung zu verstehen).

"This is a song from the Afraid of Sunlight album it`s for all those people who got starred up all the time. It`s for Elvis Presley, Kurt Cobain, Princess Diana ... and of course the Spice Girls."

Ein wenig enttäuschend ist die Aufmachung der Doppel-CD. Ist das Cover, das den Turm einer gothischen Kirche in Großaufnahme zeigt, noch durchaus stimmungsvoll, entpuppt sich das Booklet als Billiglösung mit wenigen, nichtssagenden Photos und Kontaktadressen zu Racket Records und verschiedenen nationalen "Marillion"-Fanclubs. Wenigstens ein kurzes Grußwort von einem der Bandmitglieder, wie es ja auch in den "Tales From The Engine Room", der vorherigen Racket Records-Veröffentlichung, vorhanden war, hätte es schon sein dürfen. Zum Glück wird dieser Mangel im Äußeren von den inneren Qualitäten mehr als nur wettgemacht. Zu verdanken ist das wohl nicht zuletzt der Arbeit von Stewart Every, der das Album abgemischt hat. Ihm ist es gelungen, die Aufzeichnungen von fünf verschiedenen Konzerten (Paris, Geleen, Gent, Hannover und Hamburg im Mai und Oktober 1997) so geschickt zusammenzufügen, dass sie - natürlich mit Ausnahme des "Bruches" zwischen den beiden CDs - wie eine einzige durchgehende Aufnahme wirken. Auch wenn hier die Technik wohl das Ohr täuscht, ist diese Lösung allemal besser als die "ehrlichen" Pausen zwischen den einzelnen Songs, die es etwa beim "The Thieving Magpie"-Live-Doppelalbum gab und die damals einen ebenfalls musikalisch starken Konzertmitschnitt ganz erheblich schwächten. Brilliant - und in keiner Weise mit den insoweit eher zweitklassigen vorherigen Live-Veröffentlichungen von Racket Records vergleichbar - ist auch die musikalische Qualität der Aufnahme. Die einzelnen Instrumente erklingen wunderbar klar und vom Klang her scharf voneinander getrennt. Selbst die Einbindung des Publikums ist einwandfrei gelungen - in den Pausen hört man den Applaus und die, zum Teil frenetischen, Anfeuerungsrufe der Menge, während der Stücke selbst aber erklingt fast ausschließlich die Musik. So steht dem Hörvergnügen nichts im Wege - denn genau das ist "Piston Broke". Auch wenn bedauerlicherweise ein paar Stücke fehlen, die zum Repertoire der "Strange Tour" gehörten - insbesondere vermißt man das melancholische "Seasons End", das überraschend gut zu Hogarts Stimme passende "Warm Wet Circles" (das auch gut zu "Sugar Mice" gepaßt hätte) und den Gute-Laune-Kracher "Garden Party" - tröstet einen der Rest mehr als nur darüber hinweg. Die beiden CDs machen von der ersten bis zur letzten Minute gute Laune und legen in beeindruckender Weise Zeugnis ab von der hohen künstlerischen Qualität, die die aktuelle Arbeit der Band um Sänger Steve Hogarth auszeichnet. Für diejenigen, die das Glück hatten, ein "Strange Tour"-Konzert selbst mitzuerleben, ist "Piston Broke" ohnehin ein Muß. Und wer "Marillion" 1997 verpaßt hat, kann das Erlebnis nun mit dem Livealbum wenigstens zum Teil nachholen. Schade nur, dass die Doppel-CD nicht in den freien Handel kommen soll - angesichts der Tatsache, dass "Piston Broke" mindestens so gelungen ist wie "The Thieving Magpie", hätte die Platte des allemal verdient.

Andreas Neumann

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Letzte Änderung: 19. September 1998

Andreas Neumann (Neumanna@stud-mailer.uni-marburg.de)