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KONZERTKRITIK ursprünglich erschienen in AmigaGadget Nr.33)

Konzertbericht:

This Strange Tour 1997

Marillion in Neu-Isenburg

Neues Album - neue Tour. Diesen ehernen Grundsatz des Rockbusiness haben in diesem Jahr auch "Marillion" brav Folge geleistet und ihrem brillianten Neuling "This Strange Engine" (Rezension in "AmigaGadget"#30) eine "Strange Tour" folgen lassen. Dabei konnten und wollten sie natürlich auch Deutschland, nicht erst seit "Misplaced Childhood" einer ihrer bedeutendsten Märkte, nicht links liegen lassen. Die zunächst für Mai und Juni geplanten Konzerttermine mußten jedoch ausfallen, da es der Band gemeinsam mit engagierter Hilfe der Fanclubs gelungen war, eine US-Tournee zu organisieren - die erste seit vielen Jahren, die dann auch prompt zu einem Erfolg wurde. Und die deutschen Fans wurden durch die schnelle Festsetzung der Nachholtermine entschädigt. Vom 4. bis 16.Oktober bereiste die britische Prog-Rock-Band die Bundesrepublik. Und da der letzte Gig in Neu-Isenburg nahe Frankfurt stattfand, noch Semesterferien waren und erstaunlicherweise der Rhein-Main-Verkehrsverbund eine mitternächtliche Rückfahrtverbindung anbot, ließ ich es mir natürlich nicht nehmen, diesen Termin wahrzunehmen - in der Hoffnung, daß ich noch eine Karte an der Abendkasse ergattern können würde, da mein Entschluß, nach Neu-Isenburg zu fahren, relativ spontan erfolgte. Die Hugenottenhalle, Ort des Konzertes, ließ sich dann erfreulicherweise ohne größere Probleme finden - allerdings hieß es vorher, den über zwanzig Minuten langen Fußweg vom Neu-Isenburger Bahnhof zurückzulegen. Glücklicherweise war der nicht umsonst. Es gab nämlich nicht nur noch Karten an der Abendkasse, auch die traditionellen "Schwarzhändler" boten jede Menge Tickets an - und da diese zwar auch über vierzig Mark kosteten, dabei aber eine Mark günstiger waren als die offiziellen, gönnte ich mir eine solche "Ehrenkarte". Schon aus Rache dafür, daß ich am Vortag ein halbes Dutzend Mal vergebens versucht hatte, die Ticketausgabe der Hugenottenhalle telefonisch zu erreichen. Daß Marillion in Deutschland derzeit nicht sonderlich angesagt sind, war mir im übrigen schon bewußt gewesen. Daß selbst der Tournee-Veranstalter aber Probleme mit dem Namen des aktuellen Albums haben würde, hatte ich doch nicht für möglich gehalten. Dick und fett prangte der Beweis auf der Eintrittskarte: "This Stange Engine" - whatever that means..

Nach einigem Schlangestehen war es dann soweit - rein in die Halle, Jacke an der (sehr preiswerten) Garderobe abgegeben, schnell den Flüssigkeitshaushalt mit einer Cola auf das Konzert vorbereitet und dann einen guten Platz vor der Bühne gesucht. Da die Halle sich erst noch füllte, gelang es mir auch tatsächlich, mich leicht rechts von der Mitte (respektive aus Bühnensicht links) keine zehn Meter von der Bühne entfernt zu plazieren. Normalerweise muß man ja immer warten, bis sich eine Band bequemt, endlich mit dem Konzert zu beginnen. Nicht so die Vorgruppe (oder, wie es auf der Eintrittskarte reichlich euphemistisch heißt: der "Special Guest"). Die aus Irland stammenden "Picture House" betraten noch vor dem offiziellen Konzertbeginn (20.00 Uhr) die Bühne und legten nach einer kurzen Begrüßung gleich munter los mit ihrer Musik, einer Art leicht progressiv angehauchtem Brit-Pop. Dieser kam bei den Zuschauern in der inzwischen sehr gut gefüllten Hugenottenhalle jedoch völlig zu Recht sehr gut an, zumal der Gitarrist der Band dafür sorgte, daß das ganze nicht zu seicht wurde. Da Neu-Isenburg nicht nur das Ende der in Deutschland stattfindenden "Strange Tour"-Konzerte bedeutete, sondern sich hier auch die Wege von "Marillion" und "Picture House" wieder trennten, sei, so der Sänger von "Picture House", mit bösen Streichen der "Marillion"-Band und -Crew zu rechnen. Und genau das passierte dann auch. "Picture House" wurden mit Bananen beworfen, ein Roadie marschierte mit einem Wischmop vor sich hin fegend einfach über die Bühne und eine Packung Toastbrot und eine riesige künstliche Banane oder Gurke schwebten an Seilen herab von der Bühnendecke direkt über die Köpfe der Bandmitglieder, die das ganze sichtlich amüsierte. Die ausgelassene Stimmung übertrug sich dann auch aufs Publikum und so bekam "Picture House" viel Applaus für ihre Stücke. Am besten hat mir dabei eine reichlich zynische, aber direkt ins Tanzbein gehende Massenmörderhymne gefallen - ein Stück über Leute, denen der übliche Spanner-Kitzel der Talkshows und Boulevard-Magazine schon lange nicht mehr ausreicht und die stattdessen Hannibal Lecter (fiktiv), Jeffrey Dahmer (real) und Charles Manson (real) zu ihren Idolen auserküren (die "criminal insane"). Als besonderes Bonbon - und als einmaliges Abschiedsgeschenk an "Picture House" - gesellte sich während eines Stückes "Marillion"-Frontmann Steve Hogarth zu der irischen Band und sorgte für die Zweitstimme im Duett mit dem "Picture House"-Sänger. Nur schweren Herzens konnten sich bei so einer guten Vorstellung, die jedoch zum Ende hin offenbarte, daß "Picture House" noch nicht über eine ausreichende Anzahl wirklich brillianter Songs verfügt, Vorgruppe und Publikum nach dreißig Minuten voneinander trennen.

Nun ging das Licht an, auf der Bühne begannen Roadies, die Instrumente ab-, auf- und umzubauen und aus den Lautsprecherwänden tönte Pausenmusik. Allerdings nicht irgend etwas, sondern Songs von den Soloprojekten der "Marillion"-Bandmitglieder. Etwas bisher unveröffentlichtes gab es dann nach dem Ausflug in die Welt von "The Wishing Tree" und "h" aber auch zu hören - die speziell für Fanclub-Mitglieder abgemischte Ambient-Version des 16 Minuten-Songs "This Strange Engine", die mir persönlich aber nicht sonderlich gefallen hat - obwohl die Idee ja durchaus witzig ist, wird die Stimmung des Stückes durch die Drums zu oft konterkariert. Nach über einer halben Stunde Pause ging es dann jedoch um etwa 21.00 Uhr endlich richtig los. Erstaunlicherweise hatte sich die Band den Titeltrack vom "Season's End"-Album als Opener ausgesucht - nicht gerade ein Stimmungsknüller und auch rein thematisch und textlich eher für den Abschluß als für den Anfang eines Konzertes geeignet ("..so we say goodbye..."). Nichtsdestotrotz machte das Stück schon deutlich, daß "Marillion" eine Band aus hervorragenden Musikern ist, die auch live ihre Instrumente im Griff haben. Insbesondere Gitarrist Steve Rothery, der dermaßen gut im Futter steht, daß zwei Besucher, die hinter mir standen, den ganzen Abend Witze über ihn machten, konnte seine Ausnahmfähigkeiten zumindest bereits andeuten. So richtig krachen liessen er und seine Bandkollegen es dann aber mit "Alone Again In The Lap Of Luxury" von "Brave", das dann auch das Publikum so richtig zum Mitmachen/-klatschen/-tanzen animierte. Darauf folgte die derzeitige Single-Auskopplung "80 Days" und bei dem Stück über die seltsamen Folgen des Tourstresses (in dessen Text Hogi kunstfertig "Frankfurt" einbaute) wurde deutlich, warum sich in der Setlist der "Strange Tour" nur wenige Stücke des neuen Albums befinden - mit ihren stärkeren akustischen Anleihen passen sie nicht so recht zu den alten "Marillion"-Stücken und wirken eher als Bremser im Konzertablauf. Dieser nahm aber auch an "80 Days" keinen irreparablen Schaden. Vielmehr entwickelte sich das Konzert in Windeseile zu einer gewaltigen Party. Die Band war in bester Laune und spielte entweder schnelle Stücke ("Hard As Love", "Man Of A Thousand Faces") oder Klassiker, bei denen das Publikum aus voller Kehle mitsingen konnte ("Easter"). Die Stimmung war so blendend, daß Hogarth den Versuch, ein ernstes Stück zu spielen (vermutlich "Estonia"), angesichts der klatschenden und gröhlenden Fans abbrach und zu etwas mehr partykompatiblem wechselte - was nur insoweit bedauerlich war, daß Steve Rothery die bereits umgehängte zweihalsige Gitarre wieder ablegte, so daß sie während des ganzen Abends nicht zum Einsatz kam. Am beeindruckendsten wurde die ungebrochen ausgelassene Stimmung während zweier größerer Abschnitte. Der eine behandelte Material vom "Clutching At Straws"-Album, also zur Freude zahlreicher langjähriger "Freaks" aus der "Fish"-Ära. Während "Warm Wet Circles", "That Time Of The Night" und "Slainte Mhath" (sprich: slonscha-war) kochte die Halle. Als nicht minder beeindruckend erwies sich der zweite thematisch in sich geschlossene Abschnitt - der diesmal aus Stücken vom "Holidays In Eden"-Album bestand. Und obwohl das die wohl schwächste "Marillion"-CD ist, wurde die Live-Darbietung doch zu einem Höhepunkt des Konzertes, was sicherlich auch daran gelegen haben mag, daß die drei gespielten Stücke, die auch auf dem Album miteinander verknüpften "This Town", "The Rakes Progress" (die Bildungsbürger unter uns erkennen sicherlich den zitierten Komponisten) und "100 Nights" zum besten Material auf "Holidays In Eden" zählen. Erstaunlich jedenfalls, mit wieviel Drive die Band diese Stücke auf die Bühne zauberte - Hogarth streute sich eigens irgendwelche Glitzersterne ins Gesicht und Rothery spielte bei "This Town" Riffs, die einem direkt in die Eingeweide fuhren. Mit "King" (dem einzigen Song von "Afraid Of Sunlight") endete der Hauptteil des Konzertes dann nach etwa neunzig Minuten.

Doch natürlich war damit noch lange nicht Schluß. Schon nach wenigen Zugabe-Forderungen erschien Bassist Pete Trewavas wieder auf der Bühne - und griff kräftig in die vier Saiten seines Instrumentes. Nachdem er so einige Zeit lang auf beeindruckende Weise demonstriert hatte, daß ein Baß mehr sein kann als nur ein langweiliges Rhythmus-Instrument, hatte sich auch der Rest der Band wieder eingefunden und es konnte mit der erste Zugabe des Abends begonnen werden - "This Strange Engine". Wie es bei diesem äußerst komplexen Song aber zu erwarten war, ist seine Präsentation auf der Bühne nicht ganz unproblematisch. Ausgefeilte Tempowechsel, ausladende Solopassagen und das Fehlen eines Refrains zum Mitsingen zählen nicht unbedingt zu den klassischen Live-Qualitäten eines Rocksongs. So blieb einem nichts anderes übrig, als einfach die schöne Musik zu genießen und sich an den Leistungen der Bandmitglieder zu erfreuen. Insbesondere Keyboarder Mark Kelly durfte bei diesem Stück zeigen, daß sein Instrument von erheblicher Bedeutung für die Musik "Marillion"s ist. Als kleine Showeinlage präsentierte Sänger Hogarth ("Hogi") während "Strange Engine" auch seine neueste Bastelei, einen MIDI-Kricketschläger, auf dem er dann ein wenig mit in die Tasten greifen durfte. Mehr Spaß machte ihm aber ersichtlich das anschließende, in bester Kricker-Manier erfolgende Schlagen eines Balles in die Reihen des begeisterten Publikum hinein. Ebenfalls in die kreative Abteilung gehörte wohl eine mit der obligatorischen Vorstellung der Band kombinierte kleine Reggae-Einlage zur Mitte des Stückes. Als "Marillion" nach den letzten Tönen von "Strange Engine" dann wieder verschwanden, war allen klar, daß es das noch nicht gewesen sein konnte - also wurde wieder munter geklatscht, gejohlt und gepfiffen. Und natürlich kam die Band wieder - zur zweiten Zugabe des Abends, die passenderweise mit dem "Brave"-Stück "The Great Escape" begann. Doch den absoluten Höhepunkt erreichte das Konzert mit dem anschließenden und letzten Song - dem "Marillion"-Klassiker "Garden Party" von ihrem Debütalbum "Script For A Jester's Tear". Die in Neu-Isenburg gespielte Fassung war deutlich härter und druckvoller als das Original - und paßte damit weitaus besser zum eher bluesrock-orientierten Hogarth. Auch die Stimmung im Publikum erreichte mit der Gartenparty ihren Siedepunkt. In Clownsfarben geschminkte Hardcore-Fans begannen, wild herumzutanzen (und hinzufallen) und der Refrain wurde von wirkich jedem lauthals mitgesungen. Zur Krönung kletterte der inzwischen auch sichtlich von der Atmosphäre begeisterte Hogarth (wie im übrigen bei den anderen Konzerten zuvor auch) auf die direkt vor mir stehende Lautsprecherwand, um von dort das Publikum während der nach wie vor beliebten "I'm fucking"-Zeile zu dirigieren. Glücklicherweise kam er auch unversehrt wieder herunter und so endete das Konzert etwa um viertel nach elf in allerbester Stimmung. Ich mußte dann auch gleich los, um den letzten Zug nicht zu verpassen. Als ich meine Jacke an der Garderobe wieder abholen wollte, kam ich gerade rechtzeitig um mitzuerleben, wie sie beinahe an jemand anderen ausgegeben wurde (der sie aber nicht nehmen wollte, was ich angesichts ihrer nur partiellen Zerfledderung überhaupt nicht nachvollziehen konnte). Ein ungewöhnliches (und dennoch glückliches) Ende eines herausragenden Konzertes, das besucht zu haben ich mich nach wie vor glücklich schätze. Meine Zweifel, daß eine Gruppe, deren Musik so vielschichtig ist wie die von "Marillion", Probleme haben würde, ein Live-Publikum mitzureißen, hatten sich in nichts aufgelöst. "This Strange Tour" war alles andere als seltsam - vielmehr eines der besten Konzerte, die ich je gesehen habe. Wenn nicht gar das beste.

Andreas Neumann

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Letzte Änderung: 02. Januar 1998

Andreas Neumann (Neumanna@stud-mailer.uni-marburg.de)