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REZENSION (ursprünglich erschienen in AmigaGadget Nr.24)

Marillion: "Made again"

Plattenlabel :EMI/Castle Communications
Genre :Progressiv-Rock
Spieldauer :2:18:45 h
Preis :ca. 35 DM
Interpret :Marillion
Titel :Made again

Fast ein Jahr nach Erscheinen ihres letzten Studioalbums "Afraid of Sunlight" (Rezension in AmigaGadget#20) bringt die britische Band "Marillion" nun mit der Doppel-CD "Made again" ein Livealbum auf den Markt, das zugleich ihren Abschied von der Plattenfirma EMI bedeutet. "Made again" ist eine Zusammenstellung aus drei Konzerten der Gruppe: London 1991, Paris 1994 und Rotterdam 1995.

Opener der ersten CD ist "Splintering Heart", ein Stück, das zwar einen schön treibenden Rhythmus hat, ansonsten aber eher zu den schwächeren Titeln der Band gehört. Weitaus besser ist da "Easter" (von der "Seasons End"-CD), eine lange Ballade mit ausgefeilten Gitarrenparts und einer bezaubernden Atmosphäre, die auch live sehr gut rüber kommt. Nicht ganz so überzeugend, aber doch recht hörenswert ist "No one can", einer der Titel, die auf dem "Holidays in Eden"-Album, dem Einstandsalbum des Fish-Nachfolgers Steve Hogarth, waren. Das Stück ist ein harmloses Liebesliedchen, aber immer noch einer der besseren Titel der "Ferien im Paradies". Etwas theatralisch wirkt "Waiting to happen", das vierte Stück der CD. Aber auch hier stimmt die Liveatmosphäre. Wieder schneller wird es mit "Cover my eyes" (mal wieder von der "Holidays in Eden"), einem straighten Rocksong, der aber sowohl vom Text her als auch musikalisch etwas eintönig ist - aber gerade das kommt natürlich bei einem Livepublikum recht gut an, was auch bei dieser Aufnahme zu hören ist. Orchestral wird es nun bei "The Space", das nicht nur Schlußstück des "Seasons End"-Albums war, sondern auch hier die in London 1991 gemachten Aufnahmen abschließt. In "The Space", einem der besten Stücke auf der "Seasons End"-CD, wird Hogarths Gesang von - dem Synthesizer sei's gedankt - wohlklingenden Geigen und dem virtuosem Gitarrenspiel Steve Rotherys untermalt und der Hörer in berauschende Klangwelten entführt.

"Everybody in the whole of the world
feels the same inside."

Schnell, direkt und bodenständig beginnt die (Ende 1995 in Rotterdam aufgezeichnete) zweite Hälfte der ersten "Made again"-CD: vom selben Album wie "The Space" stammt das kleine aber teuflisch mitreißende "Hooks in you". Das Stück baut auf einem Gitarrenriff auf und ist eine Livenummer par excellence. Witzig (haha) ist die Einleitung in Form von drei kurzen Stöhnern Hogarths. Zum Verschnaufen folgt nun mit der leicht kitschigen aber durchaus hörenswerten Ballade "Beautiful" die erste Singleauskopplung von "Afraid of Sunlight". Etwas störend ist ein - allerdings nur einmal kurz zu hörendes - seltsames Hintergrundgeräusch, das so klingt, als sei jemand gegen das Aufnahmegerät gestolpert. Es folgen die beiden einzigen Stücke aus der Zeit, als noch Fish der Leadsänger "Marillion"s war. Die wunderbare Ballade "Kayleigh", die die Geschichte einer alten Liebe Fishs erzählt, dürfte wohl jedem bekannt sein. Hogarths Interpretation bleibt jedoch leicht hinter dem Original und auch späteren Versionen von Fish (z.B. auf "Yang" - siehe AmigaGadget#22) zurück, was aber darauf zurückzuführen sein dürfte, daß "Kayleigh" ein wirklich reinrassiges "Fish-Stück" ist. Gleiches gilt für das sich nun - wie schon auf dem Ursprungsalbum "Misplaced Childhood" - direkt anschließende "Lavender", das Hogarth zwar auch gut rüberbringt, bei dem er aber dennoch ein wenig wie ein Fremdkörper wirkt. Der Rest der Band ist aber ganz in seinem Element, so daß Rotherys Gitarrenparts und Mark Kelleys Pianospiel schon fast nostalgische Gefühle hervorrufen können. Daß "Marillion" aber nicht nur in der Vergangenheit groß waren, sondern daß sie auch in der Gegenwart exzellente Musik machen, zeigen die beiden letzten Stücke der ersten CD, die beide von der "Afraid of Sunlight" stammen. Das ist zum einen der Titeltrack, der langsam und entspannt beginnend schnell sehr viel Energie entwickelt und genau die richtige Einstimmung für den letzten Song ist. Das teilweise mit Nachrichtenfetzen unterlegte "King" bildete auch den Abschluß der "Afraid of Sunlight" -CD und handelt von Stars, die so schnell am Himmel der Medienlandschaft aufstiegen, daß sie mit Erreichen ihres Horizontes auch schon völlig ausgebrannt waren - man darf an River Phoenix oder Kurt Cobain denken. Dabei ist "King" ein exzellent instrumentierter Rocksong, dessen Qualitäten nicht nur in den treibenden Gitarrenriffs sondern auch in dem wahrlich bombastischen Ende liegen. Das Stück ist kompromißlos, gut und ein würdiger Abschluß einer alles in allem starken ersten CD, deren zweite Hälfte die Schwächen der ersten wettmacht.

"They send you pictures of yourself, someone you don't know.
They call you a genius, 'cause you're easier to sell."

CD Nummer Zwei ist in einem Stück in Paris aufgezeichnet worden und enthält das komplette Konzeptalbum "Brave", das mit zum besten gehört, was "Marillion" je veröffentlicht haben (siehe auch die Besprechung in AmigaGadget#15). In ihm wird die Geschichte eines von zu Hause ausgerissenen Mädchens erzählt, wobei sie vom Moment ihrer Aufgreifung durch die Polizei aus quasi im Rückblick aufgerollt wird. Die insgesamt 19 Einzelnummern sind dabei zumeist durch Zwischenparts und klangliche Überleitungen (wie flüsternde Stimmen, Geräuschcollagen, etc.) verbunden, was auch in der Liveaufnahme beibehalten wurde und hervorragend wirkt. Dafür, daß das über 70 Minuten hinweg nicht langweilig wird, sorgt nicht nur der alle Zwischentöne von poetisch-träumerisch bis sarkatisch-zynisch treffende Text sondern auch die wirklich großartige Musik, die neben zahlreichen herrlichen Balladen (wie etwa der damaligen Singleauskopplung "Hollow Men", dem Titelstück "Brave" und dem Schlußstück "Made again", das - wer hätte es gedacht ? - bei der Namensgebung des Doppelalbums Pate stand) auch mehrere schnelle Rocknummern umfaßt - etwa "Living with the big Lie", "Hard as Love" und "Paper lies". Das erstaunliche ist, daß "Marillion" das ganze Werk bis auf zwei kleinere Pausen in einem Guß herunterspielen. Zumindest scheint es so, wenn da nachträglich herumgewerkelt sein sollte, merkt man es nicht. Wie schon bei der Studioversion gilt also auch für die Livefassung von "Brave", daß sie ein Edelstein der Rockmusik ist - auch wenn hier im Vergleich zur Studiofassung zwangsläufig ein paar Nuancen und Klangtiefen verschwunden sind.

"The cold war's gone,
tose bastards will find us another one."

Musikalisch gehören "Marillion" nach wie vor zum besten, was die Rockmusik- szene zu bieten hat. Das beginnt bei Steve Rothery, dem genialistischen Filigrangitarristen der Band, geht über die stillen aber umso wichtigeren Pete Trewavas (Bassgitarre) und Ian Mosley (Schlagzeug) bis hin zum virutosen Tastenkünstler Mark Kelley und dem Sänger Steve Hogarth, dessen eigenwillige Stimme den neueren Stücken "Marillion"s erst den ihnen eigentümlichen Flair verleiht. Stilistisch sind die fünf schwer einzuordnen - von Popmusik ("Waiting to happen") über straighte Rocknummern ("Hooks in you") bis hin zu progressiven ("King") und avantgardistischen ("Brave") Titeln bieten sie alles, was des Hörers Ohr begehren kann. Wer Vielfalt mag, wird keinesfalls enttäuscht werden. Gleiches gilt für die Texte, die zwischen Nachdenklichem, Anspruchsvollem und Trivialem ziemlich alle Nuancen treffen.

"Made again" kommt - wie alle Doppel-CDs dieser Tage - nicht in der gewaltigen Doppelbox sondern in einer CD-Hülle normaler Breite daher, die beiden CD stecken auf der ausklappbaren Innenhalterung. Die zweite CD ist dabei etwas schwer herauszunehmen, was den Einsatz roher Gewalt notwendig macht. Die ganze CD-Box steckt im übrigen zusätzlich in einem recht stabilen Karton, der als Bonus ein kleines Poster mit dem Motiv des Backcovers enthält. Die Vorderseite der Box zieren fünf kleine Bildchen, die die Arbeitswerkzeuge der "Marillion"-Musiker zeigen. Witzigerweise gibt es nach dem verschnörkelten Original und dem unprätentiösen Nachfolger auch mal wieder ein neues "Marillion"-Logo. Man wird sehen, ob es bis zum nächsten Studioalbum die Kreativitätsanfälle der zuständigen Designer überlebt. Das Booklet enthält neben einigen Fotos der Konzerte auch vier Seiten aus Steve Hogarths Tourneetagebuch (wer's glaubt!), in dem er (natürlich auf Englisch) über die drei Konzerte, die das Material für die CD lieferten, plaudert. Das ist eine nette Idee und auch halbwegs erträglich ausgeführt (mit anderen Worten: es hätte peinlicher kommen können). Für den Preis bekommt man zwei CDs, die vom materialistischen Standpunkt aus betrachtet alle Ansprüche erfüllen. Da sie auch - und insbesondere - musikalisch zwei wahre Leckerbissen sind, bekommt man ordentlich Hunger auf das nächste Studioalbum der Gruppe. "Marillion"-Fans, die alle Alben der Band bereits besitzen, brauchen "Made again" nicht unbedingt (da die Live- Versionen nicht besonders von den Originalen abweichen), alle anderen, deren musikalischer Geschmack nicht bei Kompositionen aus dem Drumcomputer stehen geblieben ist, dürfen die CD getrost erstehen - sie ist ein Erlebnis.

Andreas Neumann

"Notwithstanding the limitation of the hall, Jeff Hooper had, once again, done the impossible. I asked him to marry me, again."
-- aus Steve Hogarths "Tour Diary"

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Letzte Änderung: 30. Mai 1997
Andreas Neumann (Neumanna@stud-mailer.uni-marburg.de)