--------------------------
WEB GERMAN AUTOBAHNS
--------------------------

REZENSION (ursprünglich erschienen in AmigaGadget Nr.36)

Marillion & The Positive Light: Tales from the Engine Room

Plattenlabel : Racket Records
Genre : Ambient-Remix
Spieldauer : 58:59 min
Preis : ca. 30 DM

Radikale Experimente glücken nicht. Diese Erfahrung hat zumindest die britische Progressivrockband "Marillion" in der Vergangenheit machen können. Vereinzelte Versuche, sich auf spielerische Weise musikalisch gänzlich anderen Genres zu nähern (etwa dem "Beach Boys"-Strandpop mit "Cannibal Surf Babe" vom "Afraid Of Sunlight"-Abum oder lateinamerikanischem Samba mit "Hope For The Future" von "This Strange Engine") führten stets zu nicht in letzter Konsequenz stimmigen Ergebnissen und zu Irritationen in der Fangemeinde. Um so überraschender kam dann auch 1997 die Ankündigung, das jüngste Studioalbum der Band, bzw. zumindest die meisten Stücke des hervorragenden "This Strange Engine" (vgl. Rezension in "AmigaGadget"#30 ), würden in einer Remix-Fassung neu veröffentlicht werden. Noch obskurer erschien das ganze, als klar wurde, in welche Richtung die Neubearbeitung gehen sollte - das Duo "The Positive Light" produziert Ambient-, Dance- und Technosongs. Und als dann vereinzelte Songs während der Aufbauphase bei den Konzerten der "Marillion"-Europa-Tournee aus der Musikanlage erklangen, mochte sich auch noch keine rechte Begeisterung einstellen (vgl. Konzertbericht in "AmigaGadget"#33 ). Zu unvereinbar schienen der melodiöse Progressivrock der Band und der mathematisch strikte, fast schon eintönige Charakter der Ambient- und Technomusik. Dementsprechend standen die Chancen gut, dass "Tales From The Engine Room", wie das Ergebnis der Kooperation zwischen "Marillion" und "The Positive Light" dann schließlich genannt wurde, nur mehr ein weiteres mißglücktes Experiment werden würde.

Alles begann mit einem Remix von "Estonia", den "The Positive Light" den "Marillion"-Musikern vorlegten - und dieses Stück über die Schiffskatastrophe eröffnet denn auch die CD. Und von Anfang an dominiert die Bearbeitung das Original. "The Positive Light" haben das ursprünglich sehr sanft instrumentierte Stück in einen dichten Klangteppich eingewoben. Dabei gingen kaum Nuancen des Originals verloren - sie wurden lediglich durch neue Elemente ergänzt. Neben gedämpften Beats und immer wiederkehrenden Loops, mit denen u.a. auch Hogarths Gesang verfremdet wurde, fanden insbesondere auch Samples menschlicher Sprache Verwendung. So beginnt die Remix-Fassung von "Estonia" mit aufgeregtem Geflüster - und später hört man, ganz leise und kaum zu entdecken, sogar Samples menschlicher Schreie. Dabei liegt erfreulicherweise auch in der Bearbeitung durch Marc Mitchell und Mark Daghorn der Schwerpunkt des Stückes auf einer angemessenen musikalischen Trauerarbeit und nicht in einer rein auf Effekthascherei abzielenden Sensationsshow. Im Gegensatz zum "Marillion"-Original ist die "Positive Light"-Überarbeitung im übrigen deutlich über 10 Minuten lang - und doch ist keine überflüssige Minute dabei. Der Remix hält über die volle Spieldauer die musikalische Dramatik des Originals und erweitert sie stilgerecht um einige interessante Passagen.

Wie auf "This Strange Engine" folgt auch auf den "Tales From The Engine Room" - hier allerdings übergangslos - "The Memory Of Water". Während das Stück im Original nur aus Hogarths Gesang und diversen Synthesizerklängen bestand, haben "The Positive Light" kräftig in die Techno-Trickkiste gegriffen. Der Drumcomputer hämmert nach der ersten Strophe unerbittlich los, dazu fiept und zischt es aus der Effektmaschine, dass man sich in einen Diskothekenreißer versetzt fühlen könnte, wäre da nicht der einfühlsame Gesang und eine überzeugende Keyboard-Begleitung, die über dem ganzen elektronischen Tand mit geradezu majestätischer Grandezza schweben. Auch bei "Memory Of Water" überwiegt die Spielzeit der Bearbeitung (9:36 Minuten) die des Originals bei weitem. Und auch hier streuten "The Positive Light" gelegentlich kleinere Sprachsamples ein - u.a. selbst von Hogarths Gesang und, vielleicht als kleine Anspielung auf das "Afraid Of Sunlight"-Album, in französischer Sprache. Durch die Temposteigerung und teilweise minutenlange Passagen, in denen nur die Klänge aus dem Computer ertönen, hebt sich der Remix von "The Memory Of Water" insgesamt deutlicher vom Original ab, als das bei "Estonia" der Fall war. Viele "Marillion"-Fans werden das vielleicht gar nicht so ungerne sehen, fand das völlig gitarrenfreie Stück doch nicht durchweg Gefallen beim "Marillion"-Publikum. Aber auch der Rest kann die freie Bearbeitung durchaus genießen - denn trotz aller technischer Tricks und dem eintönigen Drum-Background atmet das Stück nach wie vor den Geist und die Melodie des Originals.

Die größte Herausforderung für Mitchell und Daghorn stellte aber wohl der Titeltrack des letzten "Marillion"-Studioalbums dar, das im Original knapp über 15 Minuten lange "This Strange Engine". Denn nicht nur, dass dort Gitarrist Steve Rothery und Bassist Pete Trewavas ihr Können in großartigen Soli unter Beweis stellen, das Stück lebte vor allem von seinen zahlreichen Tempowechseln und den feinen Zwischentönen, die ihre Wirkung in den ruhigeren Passagen entfalten konnten. Man durfte zu Recht befürchten, dass hier eine Bearbeitung nicht zur Verschlimmbesserung führen mußte. Der Remix beginnt, wie könnte es anders sein, mit Sprachsamples. Vor wabernden Synthesizerklängen ertönen verfremdete Wortfetzen. Diese stammen u.a. auch von Leadsänger Steve Hogarth, der ja den Text von "This Strange Engine" als musikalische Autobiographie geschrieben hatte. Doch dann geht es wie im Original weiter - nur dass "The Positive Light" dem Lied natürlich wieder zahlreiche Klänge hinzugefügt haben: neben einem wummernden Bass als Konstrast auch einen grellen Synthesizerakkord. Und selbst vor dem massiven Einsatz eines Drumcomputers und einem immer wiederkehrenden langgezogenen "Strange Engine"-, sowie einem nach einem Kleinkind klingenden Sprachsample schreckten die Techno-Tüftler nicht zurück. Dennoch ist das ganze halb so schlimm geworden, da "The Positive Light" sich auch diesmal mit Respekt an die Bearbeitung machten. Die Veränderungen und Hinzufügungen passen durchaus zum Stück und verfremden es nicht dermaßen, dass es seinen Charakter verlieren würde. Allerdings schleifen sie es auch ein wenig, trivialisieren es. Die musikalische Vielfalt, das Spiel mit unterschiedlichen Tempi und Klangfarben, welches das Original auszeichnete und zu einem der besten "Marillion"-Songs erhob, ist durch die Herrschaft des Drumcomputers eingeebnet worden. Die demokratische Tendenz des immer gleichen Techno-Beats wird dort problematisch, wo sich musikalisches Genie aus der Masse erhebt - und bei "This Strange Engine" war genau das der Fall. Der Remix ist sehr hörbar und hält auch zahlreiche erforschenswerte Überraschungen parat - die Brillianz der Urfassung erreicht er jedoch nicht ganz.

Nach dem furiosen Finale der "Strange Engine" beginnt "One Fine Day" nun wieder entspannter. Aber auch hier übernimmt sofort die Bearbeitung die Regie. Der Synthesizer pfeift und quietscht, die Drums geben das Tempo vor, die eigentliche Melodie schwingt weitgehend nur noch in Hogarths Gesang und einem sanften Hintergrundsample mit. Erneut hat auch bei diesem Stück zudem die Spieldauer eine nicht unerhebliche Erweiterung erfahren. Satte 8:20 Minuten ist der "One Fine Day"-Remix lang - und "The Positive Light" nutzen die Zeit, den melancholischen Charakter des Stückes, allen Drums, Beats, Loops und - natürlich ! - Samples (wohl in Anspielung auf die Übergabe Hongkongs an China, die zeitgleich zur Bearbeitung von "One Fine Day" entstand, heißt es an einer Stelle: "When all men are judged as human beings, as equal members of God´s familiy, then...") zum Trotz stärker herauszuarbeiten. Beeindruckend ist auch das Finale, bei dem der Sound beinahe orchestrale Ausmaße annimmt. Streicher inklusive - natürlich gesampelte.

Die größte Überraschung erwartet einen jedoch mit dem letzten Song des Albums. Dabei handelt es sich auch gleichzeitig um den einzigen, dessen Titel nicht dem des "Marillion"-Originals entspricht. Hieß die erste Singleauskopplung der CD noch "Man Of A Thousand Faces", wurde der Remix progressiv-zukunftsgewandt einfach "Face 1004" genannt. Und das ist noch nicht alles - das Stück enthält in der "Positive Light"-Bearbeitung, mit Ausnahme natürlich einiger Samples, keinerlei Gesang und erinnert auch musikalisch nicht an das Original. Neben den erwähnten Samples und kurzen Versatzstücken der Melodie ist vor allem der lebhafte Charakter, der beiden Fassungen innewohnt, die erkennbarste Verbindung. "Face 1004" dröhnt mit Volldampf aus den Boxen, harte Beats und schnelle Synthesizereffekte gehen direkt ins Tanzbein - wenngleich allerdings wohl nicht in jedes. Denn dieses Stück könnte problemlos auch auf Viva, MTV und in Techno-Discos gespielt werden. Was für das Original, das aber immerhin dank einer konzertierten Aktion des Fanclubs wochenlang die "Elch-Charts" von SWF 3 bestimmte, wohl nicht ohne weiteres gelten dürfte.

Die Aufmachung der "Tales From The Engine Room" ist durchaus angemessen und stilgerecht gelungen. Während die CD selbst das Bild einer "seltsamen Maschine" schmückt, sind Front- und Rückseite der Hülle dezent mit Linienmustern aus dem Computer versehen.. Das aufklappbare Booklet ist hingegen leider etwas knapp geraten. Neben zwei kurzen Grußworten von Steve Hogarth und Mark Daghorn, sowie zwei stilvollen Schwarz-Weiss-Photographien finden sich hier nur noch Informationen über die beiden Bands. Auch die Aufmachung des Booklets ist weniger überzeugend gelungen - hier hätte man sich ruhig ein wenig mehr Arbeit machen können, auch wenn der Verzicht auf die Songtexte akzeptabel erscheint. Die Qualitäten der "Tales From The Engine Room" liegen jedenfalls nicht im äußerlichen. Musikalisch ist das Projekt überraschend gut gelungen. Zwar werden trotz Übernahme einiger Gitarrenparts diejenigen "Marillion"-Fans wenig begeistert sein, die die Band vor allem wegen Steve Rotherys Kunst mögen. Was "The Positive Light" mit der Erweiterung der Stücke geleistet haben, vermag ansonsten jedoch sehr zu überzeugen. Insbesondere haben sie, unter all dem lärmenden Techno-Sound, dem ganzen so manche feine Zusatzkeyboard-Sektionen spendiert, die die Motive des Albums aufgreifen und variieren. Von der Chuzpe, die dazu gehört, einen Ambient-Remix eines "Marillion"-Albums zu produzieren, ja, ihn wie in diesem Fall sogar zu etwas ganz eigenem zu machen, ganz zu schweigen.

"Tales From The Engine Room" sollte ursprünglich eigentlich nur über "Marillion"s eigenes Plattenlabel "Racket Records" (P.O. Box 252; Aylesbury; HP18 0YS; Großbritannien) oder die "Marillion"-Fanclubs zu beziehen sein. Nachdem das Album jedoch bei den Fans sehr gut ankam und sich, angeblich, sogar in einigen Discotheken zu einem Geheimtip entwickelte, ist für die nahe Zukunft eine "offizielle", d.h. über die üblichen Plattenläden erhältliche Neuauflage geplant. Verlierer sind dabei diejenigen, die sich die "Tales" schon direkt vom Hersteller geordert hatten. Denn auf der öffentlichen Version wird zusätzich eine Neufassung des Stückes "80 Days" zu hören sein. Allerdings ist "verlieren" hier in einem stark relativierten Sinne zu verstehen - das Album ist so gut, dass eigentlich jeder, der es sein eigen nennt, sich guten Gewissens zu den Gewinnern zählen kann. Manchmal gehen auch radikale Experimente gut.

Andreas Neumann

"We vowed we`d never let anyone do this."

-- Steve Hogarth

--------------------------

voriger Text höhere Ebene Hauptseite nächster Text

--------------------------

Letzte Änderung: 19. September 1998

Andreas Neumann (Neumanna@stud-mailer.uni-marburg.de)