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REZENSION (ursprünglich erschienen in AmigaGadget Nr.35)

Marillion: Holidays in Eden

24 Bit Digital Remaster

Plattenlabel : EMI Records Ltd.
Genre : Progressiv-Rock
Spieldauer : 111:33 min
Preis : ca. 40 DM

Nachdem "Seasons End", das erste "Marillion"-Album mit dem neuen Frontmann Steve Hogarth, durchaus auch kommerziell erfolgreich gewesen war, setzte die Plattenfirma EMI große Erwartungen in den Nachfolger - "Holidays in Eden". Mit Christopher Neil wurde - für den durch die Arbeit am Stones-Album "Steel Wheels" verhinderten Chris Kimsey - ein Produzent verpflichtet, der schon für die Chartkompatibilität des Schmachtsounds etwa von Celine Dion oder Leo Sayer gesorgt hatte. Ein Budget für mehrere Single-Auskopplungen mit dazugehörigen Videoclips wurde zur Verfügung gestellt und zum Verkaufsbeginn des hoffnungstragenden Albums eine große PR-Kampagne gestartet, inklusive der Verbreitung von Gratis-Werbeaufklebern in Plattenläden. Die Fangemeinde der Band reagierte angemessen verstört - drohte den Progressiv-Rockern nun die endgültige Kommerzialisierung, nachdem ja schon "Seasons End" bei weitem nicht so düster und theatralisch gewesen war wie seine Vorgängeralben ? Würde es nur noch Wohlklang statt Experimentierlust geben ? Oberfläche statt Tiefgang ? Dur statt Moll ? Doch die Befürchtungen waren unbegründet - was allerdings nicht an "Holidays in Eden" lag. Denn das erwies sich in der Tat als ein streckenweise erheblich in Popuntiefen abdriftendes Werk, das fast ausschließlich aus auskopoplungsfähigen Stücken in airplaygerechter Spieldauer um die vier Minuten bestand, und das sich auch textlich unter Verzicht auf die früher obligatorische poetisch verfremdete Sozialkritik auf unverfänglich-persönliche Erzählungen beschränkte. Vielmehr hatten EMI und "Marillion" sich verrechnet. Obwohl Album und Single-Auskopplungen brauchbare Chartplatzierungen erreichten, blieb der große Erfolg, der Sprung unter die "Top Ten", aus, war das Experiment eines kommerziellen Imagewandels gescheitert und "Marillion", wohl auch künstlerisch vom Ergebnis enttäuscht, wandten sich mit dem Nachfolgealbum "Brave" wieder der Erkundung neuer anspruchsvoller musikalischer Gefilde zu. Mit gemischten Gefühlen dürften EMI und ihre ehemalige Vertragspartner deshalb Anfang diesen Jahres die "Remaster"-Version von "Holidays in Eden" fertiggestellt haben. Die Befürchtung lag nahe, daß es auch dieser Neuauflage nicht gelingen könnte, den hohen Standard der bisherigen Veröffentlichungen zu halten.

"Splintering Heart", der "Holidays in Eden"-Opener, beginnt mit sehr leisen und eher obskuren Soundeffekten - und damit eigentlich sehr vielversprechend. Doch dann setzt ein monotoner Schlagzeugrhythmus ein und das Stück entwickelt sich zu einem eher konventionellen Rocksong. Zwar zu einem dank diverser eingestreuter Hintergrundeffekte und musikalischer Spielereien sehr gut konstruiertem, durchaus auch dank Hogarths eindringlichem Gesang pathosgeladenem und mit fast sieben Minuten Spielzeit geradezu oppulentem, aber nichtsdestotrotz weniger aufregendem Vertreter seiner Art. Als noch drastischer am Mainstream orientiert erweisen sich dann einige der folgenden Stücke, insbesondere die glattpolierte Liebesschnulze "No One Can" und "Cover My Eyes (Pain And Heaven)", das auch vom Text her eher eine Sammlung banaler Momentaufnahmen als eine eigenständige künstlerische Leistung ist, dürften fast schon als Popmusik in Reinkultur einzustufen sein. Etwas düsterer und auch musikalisch interessanter ist da lediglich der dritte Track der CD. "The Party" wird aus der Perspektive eines Teenagers erzählt, der seine erste Party erlebt und dabei in eine ihm bisher unbekannte Welt der (zum Teil durchaus zweifelhaften) Vergnügungen eintaucht. Das ganze ist vor allem gelungen instrumentiert und besitzt einige spannungssteigernde Tempowechsel, was "The Party" von den anderen, bei aller musikalischen Brillianz oftmals eher eintönig dahinplätschernden Songs abhebt. Erwähnenswert sind bei diesen vor allem zwei Randnotizen - für den Text des Titelstücks "Holidays in Eden" sorgte John Helmer und die Ballade "Dry Land" stammt ursprünglich von der Band "How We Live", einer weitgehend erfolglosen Formation, der Steve Hogarth vor seinem "Marillion"-Engagement zusammen mit Colin Woore angehörte. Doch auch "Holidays in Eden" beweist einmal mehr, dass man die Haut des Bären nicht verkaufen soll, bevor man ihn nicht erlegt hat, dass man nie voreilige Schluesse ziehen sollte. Just als man sich damit abgefunden hat, die CD für den bedauerlichen Versuch, sich einem breiteren Publikum anzudienen, abzutun, erwächst die Musik der britischen Progressiv-Rocker wieder zu alter Stärke. Die letzten drei Stücke des Albums, "This Town", "The Rakes Progress" und "100 Nights" sind thematisch und musikalisch miteinander verknüpft. Und nicht nur dieses Konzept erinnert an bewährte Prog-Rock-Traditionen. Auch die Stücke selbst sind die Höhepunkt des "Holidays in Eden"-Albums, wenngleich sich in ihnen wenig von der Verspieltheit eines "Misplaced Childhood"-Songs wiederfindet. Vielmehr lassen es "Marillion" mit "This Town", das mit einem lauter werdenden Geräusch von Polizeisirenen schon von Anfang an eine urban-unruhige Atmosphäre schafft, so richtig krachen - satte Gitarren-Riffs und ein treibender Rhythmus transportieren einen zynischen Text über die Veränderungen, die einem das Leben in einer fremden Stadt zufügen kann. Das ruhigere "The Rakes Progress" (ein Titel, der nicht, wie man meinen könnte, als Reminiszenz an Strawinsky, sondern an eine Litographien-Serie von William Hogarth gedacht war) leitet direkt in "100 Nights" über, in dem "This Town" fortgesponnen und zum Ende sogar dessen Melodie wieder aufgenommen wird. Nicht zuletzt dieses Triumvirat sorgt dafür, dass "Holidays in Eden" letzten Endes die hohen Maßstäbe, die in der Regel an ein "Marillion"-Album angelegt werden können, doch noch einhalten kann. Da die Original-Version gerade mal sieben Jahre alt ist, hält sich allerdings der Remaster-Effekt in gewissen Grenzen. Und so schreibt auch Peter Mew, der die digitale Feinarbeit übernommen hatte, im Booklet von im wesentlichen "subtilen" Änderungen in der Klangqualität. Beispielsweise hört man aus Vogelstimmen-Samples im Intro des Titeltracks das Zirpen von Zickaden (stärker) heraus - tiefschürfende musikalische Neuentdeckungen sollte man sich jedoch von der 98er Überarbeitung nicht erhoffen und braucht es auch nicht, da die Probleme mit "Holidays in Eden" ja ohnehin am wenigsten mit der technischen Qualität der Aufnahme zu tun hatten.

"The Cars Leave Their Trails Of Hot & Cold Light
Inside My Head
Like Burned-In Long Exposure Pictures
The Wheels Spin Slowly Backwards
Strobing In The Amber Light
And The Rain Comes Down And Washes My Brain
But It Don´t Get Clean"

Der Anfang der Bonus-CD überrascht mit einem der wenigen "Marillion"-Songs, die nicht von der Band selbst stammen. "Sympathy" ist eine Coverversion (das erste "echte" Cover der Band) eines "Rare Bird"-Stückes aus den Siebzigern, als man noch sozialbewegt war und auch in den Musikcharts um Gerechtigkeit für die "Dritte Welt" kämfen zu müssen glaubte. Das Stück ist bei aller inhaltlicher Naivität ein Musterbeispiel für melodiösen und ohrwurmartigen Power-Rock, zumal in der Interpretation durch "Marillion" geschickt mit dem Kontrast zwischen ruhigen und beinahe a capella gesungenen Passagen und kraftvollen Bandeinsätzen inklusive der wundervoll heulenden E-Gitarre von Steve Rothery gespielt wird. Eher simpel wirkt dagegen das anschließende "How Can It Hurt", das als typisches B-Seiten-Material im Rahmen der "Holidays in Eden"-Aufnahmen eingespielt wurde. Sehr gitarrenlastig und unruhig besitzt es durchaus einige Live-Qualitäten. Ein typisches "Marillion"-Stück ist es aber nicht - und vielleicht gerade deswegen interessant. Amerikanische Fans der Gruppe kennen es im übrigen schon seit längerem - da die US-Veröffentlichung des "Holidays in Eden"-Albums sich damals sehr verzögerte, hatte man der Version für die neue Welt zwei Bonus-Tracks spendiert und bei einem handelte es sich eben um "How Can It Hurt". Der zweite folgt hier dann auch unmittelbar. Und "A Collection" ist ein richtiges Juwel, eine der schönsten Balladen, die "Marillion" in der Zeit nach ihrem ersten Frontmann "Fish" je geschaffen haben. Nicht nur musikalisch weiß es mit seiner (nur scheinbar) simplen Struktur und der akustischen Instrumentierung zu gefallen, auch der Text hebt sich vom üblichen Balladen-Geschnulze ab. In ihm erzählt John Helmer von einem Bekannten, der seine jeweiligen Freundinnen an einem bestimmten Ort fotografierte und die Aufnahmen in einem Album sammelte. (Nur diejenigen mit einer schmutzigen Fantasie stellen sich dabei unter dem "bestimmten Ort" etwas anderes als eine Landschaft, nämlich dem Lieblingsplatz des Helmer-Freundes, vor.) Ruhig geht es auch bei den nächsten zwei Stücken zu - es handelt sich nämlich um zwei Akustik-Versionen. Und sowohl "Cover My Eyes" als auch "Sympathy" wissen mit ausgestöpseltem Verstärker gut zu gefallen - Hogarth selbst schreibt im Booklet, daß ihm "Sympathy" in der akustischen Einspielung heute besser gefalle.

"If You Can`t Speak You Can`t Lie
If You Run You Can`t Hide
And If You`re Dead You Can`t Die
So No One Lives Inside"

Einen krassen Kontrast erlebt der Hörer mit dem grellen Synthesizer-Intro des sich nun anschließenden sechsten Stück der Bonus-CD. Das in seiner Urfassung (wie auch schon "Sympathy") bereits auf dem "Six of one, half a dozen of the other - The Singles Collection"-Sampler vertretene "I Will Walk On Water" liegt hier in einem erstmals veröffentlichten Alternativ-Mix vor. Wie schon der Titel verrät geht es um übermenschliche Fähigkeiten, eine geradezu magische Inspiration - und dank eines lebendigen Rhythmus und einer bombastischen Instrumentierung sorgt "I Will Walk On Water" auch tatsächlich für blendende Laune beim Hören, die einen geradezu über den Dingen schweben läßt. Weitaus roher und ungeschliffener als die spätere Studio-Fassung präsentiert sich nun "Splintering Heart", das in einer im Moles Club ausprobierten Live-Version vorliegt. Allerdings ist von der Live-Umgebung nicht das geringste zu merken: weder ertönt Applaus oder ist eine sonstige Reaktion seitens des Publikums zu hören, noch läßt das Stück irgendwelche konzerttypischen Aussetzer oder Unsauberkeiten in Instrumentierung und Klangqualität erkennen. Im Moles Club (respektive in dessen Tonstudio) wurden während des Dezembers des Jahres 1990 auch zahleiche Demos im Vorfeld zu "Holidays in Eden" erstellt. Während es die meisten auf das Album schafften, blieb der nun immerhin auf der Bonus-CD dokumentierte Titel "You Don`t Need Anyone", den Bassist Pete Trewavas im Booklet interessanterweise "I Don`t Need Anyone" nennt, außen vor. Er paßt recht gut zur musikalischen Grundlinie des Albums - durchaus chartorientiert, eingängiger Rhythmus, geschliffen inszeniert und ein weitgehend banaler Text. Lediglich ein sehr gelungene Kombination aus Gitarren- und Keyboard-Solo veredeln das Stück. Ihm folgen vier weitere Moles Club-Demoversionen (von "No One Can", "The Party", "This Town" und "Waiting To Happen"), die sich aber allesamt nicht allzu spektakulär von der späteren Endfassung unterscheiden. Erfreulicherweise ist auch hier die Klangqualität sehr hoch - Welten entfernt von den von technischer Seite doch eher amateurhaft wirkenden Demo-Versionen etwa der "Script For A ester`s Tear"-Phase. Doch damit ist es immer noch nicht genug. Verblüfft bekommt man - unter dem Titel "Eric" - eine (nur zunächst) gesprochene Einführung in die "MIDI-Gloves" von Steve Hogarth mit anschließender Demonstration derselbigen zu hören. Dabei handelt es sich um Handschuhe, die über Funkwellen mit einem MIDI-Computer kommunizieren können, so daß es ihrem Träger möglich ist, durch die Aktivierung von für Außenstehende nicht sichtbaren Schaltern komplexe Melodien und Klanggebilde quasi in die Luft zu zaubern. Den Abschluß dieser reich befüllten zweiten CD bildet schließlich "The Epic". Dabei handelt es sich um ein (gescheitertes, aber dennoch hörenswertes) Experiment, bei dem "Marillion" verschiedene musikalische Ideen, von denen manche sogar noch aus der gemeinsamen Zeit mit "Fish" stammen, zu etwas neuem verbinden wollten. Einige Motive und Passagen fanden dann aber in anderen "Marillion"-Songs Verwendung - etwa in "100 Nights" (was damals noch unter dem Namen "Fairground" entwickelt wurde) oder in "Now Wash Your Hands" vom Nachfolgealbum "Brave".

Wie alle Booklets der bisherigen Remaster-CDs enthält auch das von "Holidays in Eden" sämtliche Songtexte, das aufbereitete Originalcover, viel zusätzliches Foto- und Bildmaterial und kurze Texte der Bandmitglieder und weiterer Beteiligter. Dabei hat man leider erneut die Angabe der Spielzeit der einzelnen Titel vergessen und auch die Hintergrundgrafiken sind diesmal leider partiell etwas zu unruhig geraten, um eine entspannte Lektüre der Texte garantieren zu können. Dafür ist das Bildmaterial gut (weil oftmals auch recht witzig) ausgesucht und die Erinnerungen, die Mark Kelly, Pete Trewavas und Steve Hogarth zu Papier brachten sind, wie auch der Kommentar des "Remaster"-Machers Peter Mew, sehr informativ, kurzweilig zu lesen und zum Teil erstaunlich offen. So beschweren sich Trewavas und Kelly über diverse Schwierigkeiten bei den Aufnahmen zu "Holidyas in Eden", die durch den Druck von EMI und die schnelle Produktion durch Chris Neil entstanden seien. Und übereinstimmend berichten sie über Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Hogarth und dem Rest der Band, die ja nun - nachdem das Material zu "Seasons End" weitgehend schon vor dem Engagement des neuen Sängers fertiggestellt gewesen war - erstmals ein komplettes Album zusammen komponieren mußten. Ein besonderer Leckerbissen sind aber natürlich die Eskapaden und sonstigen Memorabilien, von denen die Musiker berichten - etwa von einer exzessiven Tequilla-Party, bei der sich die Bandmitglieder als Mexikaner verkleideten und unter anderem auch "magische Pilze" konsumierten. Alles in allem ist das Booklet einmal mehr eine leckere Dreingabe, die jedem "Marillion"-Fan das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen dürfte. Doch auch hier hat die Kommerzialisierung Einzug gehalten. Statt der bisherigen (und nach wie vor existierenden) rein informativen WWW-Seite (www.marillion.com) ist als "Website" die Anfang des Jahres online gegangene URL des "Racket Clubs", des Plattenlabels der Band, angegeben (www.marillion.co.uk), unter der vor allem auch zahlreiche CDs und Videos bestellt werden können.

"Anyway, Chris was a good laugh to work with. There was one time when were in the studio together working on something and the door had locked itself again. Someone was banging away to come in so I went to let them in. Behind me, Chris had pulled his trousers down and was pulling them up with a guilty look on his face as the rest of the band piled in. I wondered why they were all looking at me funny until I turned round and saw Chris!"

Verkehrte Welt - im Gegensaz zum ersten "Doppelpack" gefällt diesmal das "Hogarth-Remaster" weitaus besser als die Neuauflage des entsprechenden Albums aus der "Fish-Ära". So würde schon allein die Anzahl der bisher auf offiziellen (in Europa erschienenen) "Marillion"-Alben gänzlich unveröffentlichten Stücke die Bonus-CD rechtfertigen. Zählt man gar die beiden lediglich auf dem Sampler "Six of one, half a dozen of the other" vertretenen Songs "Sympathy" und "I Will Walk On Water" hinzu, bekommt der europäische CD-Käufer insgesamt sogar sieben neue Titel geboten. Hinzu kommen die obligatorischen Demo-Versionen und - wohl diesmal interessanter - zwei Alternativ-Fassungen. Und erfreulicherweise ist das nicht nur Quantität. Die Bonus-CD enthält so manche Perle, die, wollte man es zynisch formulieren, die Dreingabe fast interessanter macht als das eigentliche Produkt. "I Will Walk On Water" und "A Collection" sollten jedenfalls in keiner "Marillion"-Sammlung fehlen. Das Remaster von "Holidays in Eden" ? Paradiesisch gut.

Andreas Neumann

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Letzte Änderung: 19. September 1998

Andreas Neumann (Neumanna@stud-mailer.uni-marburg.de)