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REZENSION (ursprünglich erschienen in InfoX Nr.11)

Musik-Jubiläum : Marillion's "Script for a Jester's Tear"

Es gibt bedeutende und weniger bedeutende Werke der Rockmusik. Jeder Fan kennt sicherlich das Beatles-Album "Seargent Pepper's" oder auch Pink Floyds Meilenstein "Dark Side of the Moon". Ich möchte ein Album in diese Reihe stellen, das sicher nicht alle kennen und das auch kein derartiger kommerzieller Erfolg wie die beiden oben genannten war. Es ist ein Debütalbum einer Gruppe, das vor zehn Jahren erschien und zeigte, daß auch in einer Epoche der gnadenlosen Kommerzialisierung des Musikgeschäfts, der Austauschbarkeit der Stücke und der Fixierung auf die Stars gute und neue Musik gemacht werden konnte. "Script for a Jester's Tear" heißt die Vinylscheibe, die im März 1983 veröffentlicht wurde. Die geringe Stückzahl (sechs Titel mit einer Gesamtspieldauer von 46 Minuten) deutet schon an, was der Inhalt beweist - nicht Quantität sondern Qualität ist das Hauptmerkmal der Musik der englischen Formation. Die Stücke wurden von Marillion gemeinsam verfaßt, die Texte lieferte der Leadsänger, ehemalige Holzfäller und Bandgründer, Derek Wiliam "Fish" Dick.

Das erste Stücke "Script for a Jester's Tear", der Titeltrack, ist im Grunde eine Liebesballade. Doch in der Ausgestaltung völlig anders als die meisten inhaltlich ähnlich gelagerten Stücke anderer Musiker. Textlich präsentiert Marillion einen äußerst lyrischen Text, verwendet poetisch angehauchte Formulierungen und hüllt die Aussage des Textes in einen märchenhaft-stimmungsvollen Mantel, der auch von der Musik gewoben wird. Melodisch geschickt spielen sich mal Klavier oder Synthesizer, mal Gitarre oder Schlagzeug in den Vordergrund, stets in Konkurrenz zur Stimme von Fish, die er mit einem unglaublichen Gefühl für die Betonung von Emotionen gekonnt mal leise, mal laut in allen Tonlagen einsetzt. "Script for a Jester's Tear" treibt den Zuhörer von der Verzweiflung und Trauer durch wütende Enttäuschung hin zum erschöpften Kummer, niemals schnulzig oder klebrig.

"So here I am once more in the Playground
of the broken Hearts,
One more Experience, one more Entry in
a Diary, self-penned
Yet another emotional Suicide
overdosed on sentiment and pride"

Mit 5:22 Spieldauer folgt nun das kürzeste Stück der LP - "He knows you know". Es ist stark rhythmisiert, wirkt aggressiv und ist auch strukturell klar gegliedert. Beginnend mit "yellow fever" führt einen "He knows you know" über "crystal fever" und "scarlet fever" hin zu "purple fever". Der Inhalt dreht sich um "problems" und besteht aus einer Aneinanderreihung von Eindrücken, wobei jeder Teil sich einer Autorität erinnert, der man besser zugehört haben sollte, vom "priest" bis zum "analyst" hin zum "father".

"He knows... Slash wrists, scarlet fever, crawl under your bathroom door
Pumping arteries ooze their problems, through the gap that the razor tore."

"The Web" ist das Stück, dem wohl das Cover nachempfunden wurde. Dieses ist - wie die meisten Marillion-Cover - äußerst stimmungsreich gezeichnet, ebenso wie das Design des Booklets, das stets sämtliche Liedtexte enthält.

"The rain auditions at my window,
its symphony echoes in my womb
My gaze scans the walls of this apartment
to rectify the confines of my tomb."

DAS Livestück der Platte ist nun "Garden Party", von Melodie und Text her genau auf den Kontakt zum Publikum zugeschnitten. Inhaltlich wird ein versnobtes Gartenfest geschildert, musikalisch von verschiedenen passenden Geräuschen unterlegt (Gespräche, etc.). Das Tempo des Liedes ist hoch, wird jedoch von gedehnt gesungenen Passagen unterbrochen,um dann nur um so schneller zu werden. Nicht im Textheft abgedruckt ist eine Sologesangspassage von Fish. Ich denke, ich habe es richtig verstanden :

"I'm rocking, I'm fucking - so welcome : It's a Party"

Leichte Katerstimmung nach der "Garden Party" macht sich dann bei "Chelsea Monday", dem nächsten Stück, breit. Gedehnte Gitarrenparts, getragener Rhythmus und ein Text über ein Mädchen, das in unserer Welt ohne Tiefgang lebt. Insgesamt ein krasser Gegensatz zum vorangegangenen und dem folgenden Stück.

"She's playing the actress in this bedroom scene
She's learning her lines from glossy magazines."

Ein kriegsgeschütteltes, verwüstetes Szenario und gleichzeitig handfeste Gegenwartskritik bietet "Forgotten Sons". Musikalisch wird noch einmal viel geboten. Ein harter Rhythmus und gekonnte Gitarrenriffs unterstreichen die Endzeitstimmung des Liedes, in dem Fish teilweise als Sänger in den Hintergrund tritt und ein Chor oder ein Sprecher den Text übernimmt.

"You're just another coffin on its way down the emerald aisle
Where the children's stony glances mourn your death in a terrorist's smile."

"A Script for a Jester's Tear" ist ein Album mit dichter Atmosphäre, interessanten Themen, guten Texten und vor allem begeisternder Musik. Marillion zeigte mit dieser Platte, daß Rockmusik Kunst sein kann. Jedem, der nicht nur auf Disco-Klänge steht, empfehle ich, sich die CD zuzulegen. Es kann sein, daß sie nicht gleich beim ersten Hören gefällt. Wer sich jedoch mit der Platte ein bißchen beschäftigt, der wird begeistert sein und sie - wie ich - eventuell sogar in eine Reihe mit anderen Meilensteinen der Rockmusik stellen. Noch ein kleiner Hinweis sei mir erlaubt : mein Englisch ist nicht das allerbeste und darüberhinaus sind die Texte auf einem recht hohen Niveau, so daß ich es nicht ausschließen kann, den Inhalt des einen oder anderen Liedes falsch verstanden zu haben. Sollte dem so sein - bitte sagt Bescheid und nehmt es mir nicht übel.

Andreas "Wurzelsepp" Neumann

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Letzte Änderung: 19. Januar 1997
Andreas Neumann (Neumanna@stud-mailer.uni-marburg.de)